"Soziale Software": Innovationen für eine kritische Netzöffentlichkeit

Stefan Krempl



 

Open Innovation! Auf der Suche nach neuen Leitbildern

Vortrag auf der Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung

Berlin, 2004-09-17

 








Was ist Soziale Software?

 

Thema hat Konjunktur bekommen durch die so genannten Sozialen Netzwerke ("Social Networks"), die momentan allüberall eifrig im Internet geknüpft werden.

Beispiele: Friendster, Ryze, Orkut oder Tribe in den USA, Open BC oder myfriends hierzulande.

Ziel: Bessere Vernetzung des Geschäfts- oder Privatlebens ("Anmach-Zirkel") mithilfe von Plattformen für Online-Profile und deren Abgleich.

Offener Standard in der Entwicklung: Friends of a Friend (FOAF) soll persönliche Informationen wie Namen und Interessen von Homepage-Betreiber maschinenlesbar machen und für gezielte Recherchen öffnen.



Hintergrund:

"Small World"-Phänomen (Harvard-Psychologe Stanley Milgram)

"Six Degrees of Separation" (Projekt dazu unter anderem an der Columbia University).


Problem: Datenschutz



Soziale Netzwerksysteme sind nur ein Aspekt. Der Begriff Soziale Software lässt sich deutlich weiter fassen:

Im Grunde hat jegliche Software einen "sozialen" Charakter im Sinne von: "von Menschen gemacht". Ihr Code reflektiert die Ziele und Vorstellungen der Programmierer. Angelegte Freiheiten wie Zwänge sind nicht immer Notwendigkeiten, sondern vor allem Designentscheidungen.


Eingrenzungen:

Software, welche die menschliche Interaktion jenseits der persönlichen Kommunikation unterstützt (von der CC-Spalte bei der E-Mail bis zu komplexen vernetzten 3D-Welten)

Software, die darüber hinaus Feedback zuläßt bzw. dazu motiviert und die Möglichkeit zum Schlagen gemeinschaftlicher Bande in Form von Communities oder dezidierten Netzwerken bietet.

Es geht um die Zusammenführung von Gleichgesinnten in einem Bottom-up-Verfahren.

Häufig schwimmt eine politische Komponente mit (die hier im Vordergrund stehen soll):

  • Stärkung des Interesses und der Partizipation am demokratischen Prozess
  • Dezentralisierung
  • Power to the People
  • Förderung der Zivilgesellschaft (schon bei den alten, lokalen Freenets, den frühen Netzprovidern in den USA).

The key idea behind social software is that by using technology we can reinvigorate interest and participation in the democratic process.
Martyn Perks

Türöffner: Das Internet als universelles und günstiges Kommunikationsmedium

Aber auch und gerade die Kollaboration in der Offline-Welt soll verbessert werden.



Soziale Software entspricht dem Bedürfnis des Menschen, sich in Gruppen zusammenzuschließen, gesellschaftlich auszutauschen und gemeinsam Ziele zu verfolgen (zoon politikon).















 

Konkrete Werkzeuge


Wikis und die Vereinfachung der gemeinschaftlichen Texterstellung

Virtueller Raum, in dem zahlreiche Nutzer gleichzeitig an einem Dokument oder größerem Projekt zusammenarbeiten können > Wikipedia.


Weblogs und die Vereinfachung des Publizierens

  • Textverarbeitung in der Öffentlichkeit
  • Fortsetzung des Logbuchs auf dem Raumschiff Enterprise mit Online-spezifischen Mitteln
  • persönlich geprägte Sicht auf die medial vermittelte Welt
  • Motto: Facts in, Spin out.

Soziale Komponenten: Verweise, Blogrolls, Kommentar- und Trackback-Funktionen mithilfe spezieller technischer Standards.



Handy-Applikationen: Massenmobilisierung via SMS mithilfe TxtMob während der jüngsten Parteitage in den USA. Mailingliste für Mobiltelefone, programmiert am Institute for Applied Autonomy (Ziel: Entwicklung von Technologien, die dem sozialen menschlichen Bedürfnis nach Selbstbestimmung dienen). Serendipity an der Kontaktanbahnungs- und Dodgeball an der Kontaktvertiefungsfront.



Social Networks (s. o.)










 


Soziale Software in Aktion

MoveOn und die
Weapons of Mass Mobilization

Wes Boyd und Joan Blades, ein in die Jahre gekommenes Hippie-Pärchen aus Berkeley, waren 1998 die Lähmung der Politik durch die Konzentration der Öffentlichkeit auf das Amtsenthebungsverfahren gegen Clinton leid. Sie wollten, dass der US-Congress dem Präsidenten eine Rüge erteilen und dann mit den eigentlich wichtigen Aufgaben weitermachen sollte.

Sie stellten daher eine entsprechende Petition für MoveOn ins Web und luden 100 Freunde per E-Mail zum Unterzeichnen ein.

Nach einer Woche hatten sich dem Begehr schon 100.000 Surfer angeschlossen, letztendlich wurden eine halbe Million daraus.

Weitere Aktionsfelder von MoveOn:

  • Irak-Krieg und der US-Präsidentschaftswahlkampf 2004. Klare Unterstützung der Demokraten.
  • E-Mail-Datenbank mit über 2 Millionen Aktivisten.
  • Spendenakquise gemäß dem Motto: Kleinvieh macht auch Mist -- 40 Millionen US-Dollar für Kerry avisiert.
  • Nutzer konnten Werbespot gegen Bush küren.
  • Telefon-Datenbank mit automatischem Anwahlsystem erreicht 800.000 Bürger am Tag.
  • Das Modell stand Pate für den Online-Wahlkampf von Howard Dean, der zudem auch die Plattform Meetup.com berühmt machte.

By capturing reflecting, and amplifying collective opinion, they are trying to change the nature of politics. ... MoveOn is an enormous social network, powered by Web discussions and email petitions forwarded from friend to friend.
Gary Wolf im Magazin Wired

MoveOn.org has become a powerhouse, grass-roots organization that has helped re-energize politics in the United States and force Washington lawmakers to pay attention to voices outside the capital beltway.
Kim Zetter in Wired News

Some political scientists say that MoveOn.org may foreshadow the next evolutionary change in American politics, a move away from one-way tools of influence like television commercials and talk radio to interactive dialogue, offering everyday people a voice in a process that once seemed beyond their reach.
Michael Janofsky/Jennifer 8. Lee in der New York Times





Warblogger vs. eingebettete Reporter
im Irak-Krieg

Warblogs: Politisierung und wachsende Bekanntheit von Weblogs im Zuge des 11. September. Rechtskonservative Geister wie Instapundit oder Andrew Sullivan besetzten das Gebiet.

Links von der Mitte stehende Köpfe wie Sean-Paul Kelley mit dem Agonist oder Markos Moulitsas Zúniga mit DailyKos verlegten sich erst Mitte 2002 aufs Bloggen. "Warblogs.cc" als Meta-Blog (Nachrichtenportal für Kriegsgegner).

Spätestens mit dem Irak-Krieg rückten Warblogs ins Zentrum der Aufmerksamkeit -- Phänomen wurde bekannt vor allem dank Salam Pax, dem Bagdader Netzchronisten, durch Journalistenblogs wie das von CNN-Reporter Kevin Sites oder bloggende G.I.s wie Sgt. Stryker, Chief Wiggle oder Lt. Smash-us.com, dem Mann aus der Sandbox (inzwischen "Citizen Smash").

Die Blogosphäre als die "zweite Supermacht" (Jim Moore)?



Studie: Stellt sich in den Online-Foren ein diskursiver Mehrwert gegenüber den traditionellen Massenmedien ein?

Salam Pax berichtet aus der Froschperspektive, statt aus der Vogelperspektive der fallenden Bomben

Es gab Tage, als der Rote Halbmond um Freiwillige bettelte, die helfen sollten, die Körper der Toten von den Straßen der Stadt wegzutragen und angemessen zu begraben. Die Hospitale verwandelten sich in Friedhöfe, sobald der Strom ausfiel, und es gab keine Möglichkeit, die Leichen aufzubewahren, bis jemand kommt und sie identifiziert.

Schlacht um die Interpretationshoheit der von der Front und aus den Regierungssitzen strömenden Informationen zwischen rechten und linken Warbloggern in den USA: Kampagnen gegen liberale Medien wie die New York Times oder die BBC durch konservative Blogger.

Die linken Blogger lenken die Augen der Leser dagegen immer wieder auf Propagandalügen, auf Desinformationen der offiziellen Seite und der "gleichgeschalteten" Medien, auf die finanziellen und sozialen Kosten des Kriegs sowie auf Anhaltspunkte für Sand im Getriebe der amerikanischen Militärmaschine. Bush steht im Zentrum der Kritik.

Ein besonderer Streich in journalistischer Hinsicht gelang Christopher Allbritton mit seinem Logbuch Back to Iraq. Berichtet aus dem Nordirak mit dem guten Gefühl, "dass ich zum ersten Mal in meiner dreizehnjährigen Zeit als Journalist eine Berichterstattung mit nur einer einzigen Verantwortung ausüben kann -- der gegenüber den Lesern." Debatte um "Mikro-Journalismus".

Zusammengenommen bilden die Warblogger die exakten Gegenspieler zu den embedded correspondents. Sie sind nur ihrer eigenen Propagandaschere im Kopf unterworfen und nur ihren Lesern verpflichtet.


Blogging skizziert eine Welt von Individuen, von Leben und Tod, Leiden und Verlangen, so wie die eingebettete Berichterstattung eine Welt militärischer Ziele und Kampagnen, eine Welt von Sieg und Niederlage malte.
Julie Hilden im Online-Magazin FindLaw











 

Resümee

Soziale Software

  • verschmilzt Technik und Gesellschaft;
  • ist eine Innovation und Evolution der Netzwerktechnologie, die eine kritische Netzöffentlichkeit fördern und einen besseren Zugang der Allgemeinheit zum politischen Prozess ermöglichen kann;
  • erweitert das Spektrum der Zivilgesellschaft, indem sie auch Randgruppen kostengünstig eine Verlautbarungsplattform zur Verfügung stellt;
  • dient gerade in der Blogosphäre der raschen Ausbreitung von Meinungen und Memen (die aber in der Regel noch der Verstärkung durch die Massenmedien bedürfen);
  • bildet einen alternativen Ort zum Gedankenaustausch und zur Gemeinschaftsbildung.




Links

the social software weblog

Gary Wolf: Weapons of Mass Mobilization, Wired 09/2004

Kim Zetter: MoveOn Moves Up in the World, Wired News 26.07.2004

Clay Shirky: Social Software and the Politics of Groups, März 2003

Martyn Perks: Social software - get real, 20. März 2003

Ross Mayfield: Distribution of Influence, 26. März 2003

Jane Black: The Perils and Promise of Online Schmoozing, BusinessWeek Online, 20. Februar 2004

Thorsten Wichmann: Social Software -- Kommt die New Economy zurück? Berlecon, 25.02.2004

Stowe Boyd: Are You Ready for Social Software? Read Darwin 05/2003

Automatisierte Partnersuche, heise online, 17.03.2004

Stefan Krempl: Soziale Software schreiben, Telepolis, 11.02.2001

Stefan Krempl: Krieg und Internet, Hannover (Heise), 2004