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Das Internet der Dinge

Nach dem Aufbau des stationären und mobilen Netzes macht sich die Computerindustrie nun gemeinsam mit Forschungszentren, Handelsorganisationen und dem Pentagon an der Entwicklung der dritten Internet-Generation: jetzt soll auch die Produkt- und Tierwelt mit Hilfe von winzigen Funk-Chips gemäß der RFID-Erkennung katalogisiert und vernetzt werden. Ein Horror-Thema für Datenschützer, da die "Inventarisierung" vor dem Menschen nicht halt macht.

Stefan Krempl, Computerworld 5/2004

Etwas "ganz Großes" wittert Jeff Wood, Analyst beim Marktforschungsinstitut Gartner. Seine Kollegen von Forrester Research haben bereits einen Namen dafür: sie sprechen vom "erweiterten Internet". "Alles wird eindeutig identifizierbar und verfolgbar", prophezeit John Gage, Chefforscher beim Workstation-Spezialisten Sun Microsystems, im Hinblick auf das neue Vernetzungspotenzial. "Get chipped", fordert die ins Trudeln gekommene Hightech-Firma Applied Digital Solutions aus Florida gar die US-Bürger in einer Werbekampagne für ihren "VeriPay"-Chip auf, der statt einer Geldkarte seinem Träger gleich direkt unter die Haut implementiert wird. Zentrum des neuen Hypes, in dessen Zuge endlich die gesamte Welt mit winzigen Computerprozessoren bestückt und damit maschinenlesbar werden soll, sind die vier Buchstaben RFID. Sie stehen für Radio Frequency Identification, eine Methode zur Erkennung von Gegenständen und Lebewesen anhand eindeutiger, von Rechnern auslesbarer "Seriennummern" mit Hilfe von kaum sandkorngroßen Funkchips.

Die Mini-Transponder sollen vor allem im Handel Kosten sparen durch die bessere Kontrollierbarkeit von Warenflüssen und Logistik. Geht es nach der Industrie, werden sie schon bald den Streifencode ersetzen, mit dem viele Artikel schon heute elektro-optisch gescannt und identifiziert werden können. "Jedes Produkt erhält ein Kennzeichen wie beim Auto", freut sich Kerry Clark, Leiter der globalen Marktentwicklung beim Konsumgüterriesen Procter & Gamble. Damit will er der "Tonne von Geld nachjagen, die in der noch nicht gut gemanagten Lieferkette schlummert." Sein Haus plant, bis 2005 rund 80 Prozent seiner nordamerikanischen Produktlieferungen mit der RFID-Technik auszurüsten. Die gekennzeichneten Artikel wären dann jederzeit einzeln verfolgbar auf dem Weg aus dem Lager zum Geschäft bis in die Hände der Verbraucher. Dem Handelsriesen Wal-Mart geht das nicht schnell genug: er verlangt von seinen Zulieferern, dass sie ihr gesamtes Sortiment im Laufe dieses Jahres mit den "smarten Labels" versehen. Laut amerikanischen Medienberichten will der Konzern drei Milliarden US-Dollar investieren, um seine Infrastruktur mit Lesegeräten und Auswertungsprogrammen für die RFID-Revolution fit zu machen. Auch das Pentagon, einer der großen Regierungskunden in den USA, will von 2005 an nur noch Waren mit intelligentem Mikroausweis akzeptieren.

Transponder sind eigentlich keine Neuerfindung. Schon von 1940 an wird ihr militärischer Gebrauch kolportiert, etwa zur Freund-Feind-Erkennung alliierter Flugzeuge. Seit 1977 sind die Funkchips für zivile Anwendungen freigegeben. 1997 wurden sie bereits zur Identifikation von Milchkühen in den USA verwendet, was durch BSE-Fälle jenseits des Atlantiks nun wieder zur Rückverfolgung der Rinderseuche in Mode kommt. 1984 startete die RFID-Serienproduktion, seit 1988 sind industrielle Anwendungen bekannt. Heute kommen die schlauen Etiketten (Tags) in Autos als Wegfahrsperre längst genauso zum Einsatz wie bei der Umlaufkontrolle in Brauereien und Bibliotheken, der Gepäckstücküberwachung im Reiseverkehr oder der Behälteridentifikation bei der Müllentsorgung. Zum Verfolgen von Tauben oder Bienen werden sie verwendet, aber auch zur Weg- und Zielkontrolle von Sportlern wie Marathonläufern. In vielen Firmen dienen die kontaktlosen Chips als personenbezogene Zugangsberechtigung oder als moderne Form der Stechuhr. Amerikanische Casinos bauen auf die hochfrequenten Körnchen, um Betrug mit ihren Jetons zu verhindern. Die FIFA will die Sicherheit in Stadien bei der Weltmeisterschaft 2006 durch ein E-Ticket mit Funkwellen-Identifizierung erhöhen.

Den Boom ausgelöst haben neue Prozessorproduktionsverfahren. "RFID-Chips sind heute nicht nur leistungsfähiger, sondern auch um ein Vielfaches billiger zu fertigen", weiß Klaus Finkenzeller, Transponderexperte bei der Münchner Geld- und Chipkartenfirma Giesecke & Devrient. Gefragt sind vor allem passive Funkchips. Sie lassen sich im günstigen CMOS-Verfahren in großen Stückzahlen produzieren. Alle Schaltungsbestandteile sind dabei auf einem millimetergroßen Siliziumbaustein vereint, weiß Gerd vom Bögel, RFID-Fachmann am Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme in Duisburg: Energie-Extraktor, Sensorelemente, A/D-Wandler, Mikroprozessor, Speicher für Kalibrierungsdaten und Identifikationsnummer einschließlich Antenne. Der smarte Staub gibt seine Kennung erst preis, wenn ihn das elektromagnetische Feld eines Lesegeräts mit der dazu benötigen Energie versorgt. Die Reichweite ist im Gegensatz zu aktiven, batteriebetriebenen Transpondern auf meist nicht mehr als zwei Meter begrenzt. Besonders winzige RFID-Tags wie der nur 0,4 Millimeter breite µ-Chip von Hitachi, der nach offiziell nicht bestätigten Berichten auch in Euroscheinen bald Betrügern entgegenfunken könnte, sind nur über eine Entfernung von wenigen Millimetern lesbar. Dadurch soll verhindert werden, dass Diebe mit entsprechenden Lesegeräten schon von mehreren Metern Distanz aus die Güte potenzieller Opfer analysieren.

Einem größeren Publikum bekannt geworden sind die SmartLabels mit ihrem Einzug in ein "Extra"-Geschäft der Metro-Gruppe in Rheinberg bei Düsseldorf seit April 2003. Der als "Future Store" aufgezogene Supermarkt gilt dem Handelskonzern zusammen mit einer Handvoll niederrheinischer Kaufhof-Filialen als Testbett für die Einführung der intelligenten Etiketten. Sie sorgen dort dafür, dass der Bestand gekennzeichneter Produkte ständig überwacht werden kann. Die Daten der RFID-Tags werden in einem Zentralrechner, dem so genannten RFID-Warenfluss-System, gesammelt. Alle Partner der Logistikkette, also Handel, Zentraleinkauf, Warenlager, Zwischenhändler und Hersteller, haben Zugriff auf diese Datenbank. Die "smarten Regale" sollen verhindern, dass ein Produkt nicht vorrätig ist. Die gekauften Artikel können die Shopper mit dem PDA ihres Einkaufswagen gleich einscannen. Dann zahlen sie wie gewohnt an einem Terminal bar oder mit Karte.

Es werden auch vollautomatisierte "Selbstzahlerkassen" getestet: Der Kunde zieht seine Artikel über einen 360-Grad-Scanner und erfasst die Preise. Anschließend legt er die Produkte in eine Warentüte, die automatisch gewogen wird. Weicht das Ergebnis der von dem der gescannten Erzeugnisse ab, erhält ein Mitarbeiter am Informationsschalter eine automatische Meldung. Stimmt es überein, werden die Tags entwertet und die Produkte aus dem Warenwirtschaftssystem ausgebucht. Partner beim Future Store sind Firmen wie Cisco, IBM, Intel, SAP sowie seit Januar auch Microsoft. Der Softwaregigant will mit seiner "Smarter Retailing Initiative" dem Handel helfen, Warensortiment und Kundenströme besser im Blick zu haben. Die Metro AG selbst hat angekündigt, von November 2004 an 100 Lieferanten und 250 Warenhäuser und Verbrauchermärkte der Gruppe mit RFID-Systemen bei Paletten und Transportverpackungen zu versehen. Bis 2007 sollen sämtliche 800 Konsumtempel und Lieferzentren in Deutschland umgerüstet werden.

Die zahlreichen Einzelinitiativen auf der Transponderebene werden gebündelt durch gemeinsame Normen. Der Durchbruch kam im Jahr 2001 mit dem ISO-Standard 14443 Proximity Card, dem ein halbes Jahr später ISO 15693 Vicinity Card folgte. Die Pläne der Techniker gehen aber weiter. Projekte wie EPCglobal, eine Gemeinschaftsunternehmung der schon bei den Barcodes wichtige Rollen spielenden EAN (European Artifical Numbering Association) und des UCC (Universal Code Council), haben es sich zur Aufgabe gemacht, alles, was über ein Produkt gespeichert werden kann, auf Servern vorzuhalten. Das Auto ID Center, ein Verbund von Forschungszentren unter Führung des Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit rund 100 Unternehmen, hat dazu eine spezielle Physical Markup Language (PML) nach dem Vorbild von HTML entwickelt. Sie gilt als Basis für das "Internet der Dinge", das ähnlich dem EDIFACT-Standard oder dem Domain Name System (DNS) ein festes Informationsverzeichnis für alle dank RFID "vernetzten" Gegenstände und Lebewesen bilden soll. Zum Hüter des Dienstes hat EPCglobal die kalifornische Firma VeriSign bestimmt, die auch im klassischen DNS-Geschäft führend ist. Grundlage für PML als standardisierte "Sprache" für die Speicherung von Daten über Objekte ist ein XML-Schema. Eine erste Spezifikation hat das Auto ID Center im November vorgestellt, bevor es sich auflöste und den Weg für EPCglobal freimachte. Sein Nachlass wird von den Auto ID Labs verwaltet, einer Einrichtung, der die Universität St. Gallen mit ihrem Ubiquitous Computing Lab vorsteht.

Bereits für dieses Quartal angekündigt ist auch die Spezifikation 1.0 des Electronic Product Code (EPC). Neben Metro machen sich in Europa die britische Supermarktkette Tesco und die weltweit zweitgrößte Handelsfirma, die französische Carrefour, gemeinsam mit Intel für die schnelle Einführung des Strichcode-Ablösers stark. Der Standard sieht eine 96-Bit-Implementierung vor, welche die eindeutige Vergabe von über 68 Milliarden Seriennummern weltweit erlaubt. Theoretisch können bis zu 268 Millionen Hersteller mit jeweils 16 Millionen Produkten identifiziert werden. Intel hofft im Zug des flächendeckenden Einsatz des EPC, die eigenen 64-Bit-Itanium-Prozessoren besser verkaufen zu können: die Speicherung und Auswertung der bei allgegenwärtigen RFID-Scans anfallenden gigantischen Datenmengen benötigt leistungsfähige Server.

Dank der vorankommenden Standardisierung und dem Preisverfall bei den passiven Transpondern, die Experten bald auf dem Niveau von zehn Cent sehen, erwarten Unternehmensberater einen weiteren Boom in der kontaktlosen Chipkommunikation. Die Technik sei halbwegs ausgereift, so das Credo der meisten Institute. Auch wenn Matt Reynolds vom Transponderfabrikanten ThingMagic jüngst auf Schwierigkeiten hinwies, die Metallfolien oder selbst Flüssigkeiten den schlauen Etiketten bereiten: "Jedes leitende Material kann die Funksignale abschotten", erklärte der Fachmann. Dennoch rechnen die Auguren des Marktforschungsinstituts IDC mit einem erheblichen Anstieg der Investitionsausgaben für RFID-Implementierungen. Allein Einzelhandelszulieferer in den USA könnten sich die Einführung der Technik bis 2008 bis zu 1,3 Milliarden US-Dollar kosten lassen. Das entspräche dem 14-fachen der Ausgaben in 2003. Die Ausstattung der Firmen mit der nötigen Hardware werde 2007 ein Investitionsvolumen von 875 Millionen US-Dollar erreichen. Die Kollegen bei Frost & Sullivan sehen den Gesamtmarkt für Funkchips 2006 sogar bei über vier Milliarden Euro.

Großhersteller der speziellen Halbleiter wie Infineon, Philips Semiconductors oder Texas Instruments können sich angesichts dieser Zahlen freuen: Philips will bereits eine Milliarde RFID-Etiketten verkauft haben. Infineon versucht die Nachfrage mit einem in Kooperation mit dem australischen Spezialisten Magellan Technologies Transponder anzukurbeln, der für den neuen ISO-Standard 18000 Part 3 Mode 2 ausgelegt ist und gleichzeitig die berührungslose elektronische Identifizierung von mehreren hundert Objekten oder von schnell bewegten Gegenständen ermöglichen soll. IBM und Sun haben spezielle Labors in den USA beziehungsweise in Schottland eingerichtet, in denen Kunden die Integration der Tags in Backend-Systeme und in die Versorgungsketten von Partnern testen können.

Großer Unmut über die "Schnüffel-Chips" (www.spychips.com) herrscht dagegen bei Verbraucher- und Datenschützern: Die amerikanische Initiative CASPIAN (Consumers Against Supermarket Privacy Invasion and Numbering) warnt regelmäßig vor dem Überwachungspotenzial der verräterischen Etiketten, das sich vor allem in Zusammenhang mit den omnipräsenten Kunden- und Bonuskarten ausspielen lasse. Nach Boykottaufrufen legten Firmen wie Gillette oder Benetton RFID-Pläne kurzfristig auf Eis. Der "Future Shop" der Metro erhielt zudem kürzlich den deutschen Big Brother Award. Doch mittelfristig dürfte das den Siegeszug der kleinen Spione kaum aufhalten. Ein "ganz, ganz ungutes Gefühl" beschleicht daher Helmut Bäumler, einen der rührigsten Landesdatenschutzbeauftragten in Deutschland, beim Gedanken an eine Gesellschaft, in der "man an vielen Gegenständen unsichtbare, kleine Peilsender hat". RFID könne zum "Horror-Thema" werden, wenn die Kennzeichnung von Gegenständen benutzt werde, um Menschen auszuspionieren.

Der gläserne Bürger und Konsument – mit dem Netz der Dinge könnte er endgültig Wirklichkeit werden. Ein unter dem Pseudonym padeluun bekannter Netzaktivist vom Bielefelder FoeBuD-Verein warnt daher eindringlich vor den auch in Europa propagierten Plänen der US-Regierung, Pässe mit auslesbaren Identifizierungscodes zu versehen: "Menschen als Nummern automatisch abfragbar zu haben, ist ein Verbrechen." Jedes Individuum müsse sich unbeobachtet von Maschinen bewegen können. Schwer im Magen liegt den Datenschützern, dass die Funkchips vermehrt als Allheilmittel gegen Diebstahl und Sicherheitsgefährdungen angesehen und Studenten, Kunden oder Kleinkinder lückenlos überwacht werden. FoeBuD, CASPIAN und zahlreiche andere internationale Bürgerrechtsorganisationen dringen daher auf ein Moratorium vor dem Einsatz der verräterischen Transponder in großem Maßstab. Sie verlangen eine ernsthaft vorangetriebene Technikfolgenabschätzung. Um dem Appell Nachdruck zu verleihen, entwickelt der FoeBuD einen "DataPrivatizer". Das Gerät soll gezielt RFID-Tags auf die Spur kommen und die Bürger über deren Integration in Alltagsgegenstände aufklären.